Yasuaki Shimizu – Philosoph auf dem Tenorsaxophon

Als er in den 1970er Jahren mit professioneller Musik startete, bevorzugte der 1954 geborene yasuaki shimizu (*) experimentelle Sounds im Kontext von Rock, Jazz und Elektronik. Danach interpretierte er afrikanische und chinesische Musik, komponierte viele Commercials und spielte immer wieder Jazz. Sein Interesse an anderen Kulturen und musikalischen Strömungen lassen ihn bis heute neugierig sein und veranlassen Shimizu dazu, die eigene Musik einer ständigen Entwicklung und Veränderung zu unterziehen.

Im Land der aufgehenden Sonne zählt Yasuaki Shimizu zu den renommiertesten Saxophonisten und Arrangeuren. So arbeitete er u.a. mit Helen Merrill, Karin Krog, Pierre Barouh, Bill Laswell, Elvin Jones, Van Dyke Parks, Manu Dibango, Michael Nyman, John Zorn, Yosuke Yamashita und Ryuichi Sakamoto. Eine erstaunliche Liste, die zeigt, wie umfassend Shimizu’s musikalisches Interesse angelegt ist.

Im Japanischen gibt es den Ausdruck „gutto kuru“, der im Deutschen etwa bedeutet, dass etwas „den Nagel auf den Kopf/ ins Schwarze trifft“. Das be­schreibt den Umstand, dass irgend etwas die parasympathischen Nerven, sowohl in men­taler als auch in physischer Weise, anregt. Derartige „gutto kuru“-Erfahrungen liebt Yasuaki Shimizu.

Yasuaki Shimizu: Besonders Sound verschafft mir derartige Empfindungen. Es ist, als wäre ich besessen, als würde ich durch eine Wüste wandern, um dieses Gefühl zu finden. Es stellt sich nur ein, wenn ich aufgeschlossen und emp­fänglich bin. Daher versuche ich offen für all die verschiedenen Klänge der Welt zu sein. Ich analysiere sie und genieße es, wie sie sich verändern. Es gibt heute diverse Musiksti­le auf der Welt, aber diese Stile waren nicht von Anfang an da. Sie wurden von uns Menschen über Jahrhunderte hinweg gestaltet. Deswegen versuche ich zuallererst einmal die Art und Weise, wie Menschen in Interaktion treten, zu erfassen und in Berührung mit dem zu kom­men, was das „gutto kuru“ auslöst. Aufgrund ebensolcher diverser Kollaborationen machte ich Alben wie „Subliminal“ (1987), „Dementos“ (1988) und „Aduna“ (1989), von de­nen alle jeweils im Verhältnis zu den anderen entstanden. Wenn ich all meine verborgenen Empfindungen aus der Reserve locke und sie dann übersetze, indem ich ihnen eine klangliche Qualität gebe, dann lässt sich das Ergebnis dieser Bestrebungen unter dem Saxophonettes-Projekt fassen. Anfänglich waren dies die Bestrebungen einer Einmannband; dann lud ich von Zeit zu Zeit Gast­musiker ein, obwohl ich dieses Zusammenwirken nicht gleich mit dem Namen „Saxophonettes“ in Verbindung brachte. Aber mir gefiel der eingängige Klang des Namens; deshalb behielt ich ihn bei, nachdem ich 2006 ein Saxophon-Quintett gründete.

Olaf Maikopf: Was interessiert Sie speziell am Solospiel auf dem Saxophon?

Yasuaki Shimizu: Auf der Suche nach dem „gutto kuru“-Gefühl stellte ich gelegentlich fest, dass ich nicht nur Musik produzieren wollte, die Rhythmus, Melodien und Harmonien ausbalan­ciert. Ich wollte herausfinden, was ich mit monotonen Instrumenten, die nicht aus sich allein heraus Harmonien kreieren, machen konnte. Ich spiele eine Vielzahl von Instrumenten, aber auf dem Saxophon bin ich am erfahrensten. Ich entschied mich auszuprobieren, was ich allein mit dem Saxophon tun konnte. Dabei hatte ich das Bild eines einsamen Fischers im Kopf, der ganz allein mit seiner Angelrute tapfer fischt.
Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, kam ich an den Punkt, an dem ich mich fragte: ‚Was nun?‘ Lange Zeit hatte ich keine Ideen. Nach etwa einem halben Jahr flammte die Idee von einem Tenorsaxophon, Bach und einem räumlichen Dreieck auf. Die Aussichten, aus jedem dieser drei Blickwinkel betrachtet, begeisterten mich. Die Bach/ Raum-Dynamik war offensichtlich, während der Tenorsaxophon/ Bach-Blickwinkel weniger eindeu­tig war. Dennoch erschien mir die Kombination wirklich lustig und ergriff mich: Der göttli­che/ geistliche Bach umgesetzt mit einem tiefen Tenorsaxophon.

Olaf Maikopf: Warum ausgerechnet Bachs „Cello Suites“?

Yasuaki Shimizu: Mit Blick auf die Konstruktion ist das Saxophon ein Rohr. Menschen sind ähnlich aufgebaute Rohre – Mund-zu-Anus-Rohre. Spielt man diese röhrenförmigen Instrumente in einem großen, von harten Steinwänden umgebenen Raum, dann vibriert das gesamte Innere. Der nachhallende Raum stößt eine immense Soundqualität aus.
Zunächst versuchte ich, das Tenorsaxophon in dem gigantischen unterirdischen Steinbruch in Ohya zu spielen und es war, als ob mein Körper sich über den gesamten Raum ausbreitete und einen Kosmos bildete, der mir zehn Erfahrungen auf einmal gab.
Wenn die Tonleitern in einem riesigen Raum gespielt werden, kreieren die Nach­klänge und Obertöne eigentümliche Harmonien im Kopf des Hörers. Anstelle von formelhaf­ten, harmonischen Sequenzen hört man flüchtige, eher zufallsbedingte regellose Muster. In­dem man seinen Atem in die Röhre bläst, bringt man die Luftsäule zum Schwingen und lässt den Raum nachhallen. Aber das wichtigste ist das Atmen. Wenn man die Intervalle beim Luft holen bewusst abändert, wandelt man die Qualität des affizierten Sounds ab, was darauf hinausläuft, dass man das Arrangement im Moment des Spielens verändert und improvisiert. Der Grund, warum ich mich aus Bachs Gesamt­werk für die „Cello Suites“ entschied ist einfach, es sind seine unbegleitete Kompositionen.

Olaf Maikopf: Erzählen Sie vom Konzept für ihr Album „Pentatonica“.

Yasuaki Shimizu: In der Meiji-Ära (1868-1911) öffnete Japan der Welt seine Tore und importierte viele ver­schiedene Dinge, auch kulturelle Eigenheiten, aus dem Ausland. So hielten unterschiedliche Arten von fremdländischer Musik Einzug in Japan und die Japaner begannen sofort damit, diese zu interpretieren und zu begehren und sogar eigene Empfindungen für sie zu entwi­ckeln. Was die Japaner schon lange vor der Moderne auszeichnete, ist die Tatsache, dass sie nicht leben können ohne immer wieder äußere Einflüsse aufzunehmen und zu durchdenken. Die Menschen in Japan singen Rock ’n‘ Roll, analysieren Hula, Flamenco und Bauchtanz, ler­nen indische Musik und beenden das Jahr, indem sie zu Silvester Beethoven’s Neunte hören. Es gibt wahrscheinlich kein anderes Land, das so viele verschiedene Musikrichtungen teilt. Den­noch scheint es niemanden zu kümmern, dass Japan für tausende von Jahren seine eigenen pentatonischen Tonleitern hatte, die heutzutage beinahe verloren gegangen sind.
Ich denke, dass pentatonische Musik diejenige ist, die am besten zu den Japanern passt. Ich bin mehr und mehr davon überzeugt. Ich dränge auf pentatonische Stücke seitdem ich als Musiker tätig bin. Diese Anstrengungen lassen sich anhand der Alben „Kakashi“ (1982) und „Utakata No Hibi“ (1983) und an Stücken, die ich für den berühmten „Enka“ Sänger Saburo Kitajuma arrangiert habe, ablesen. „Pentatonica“ (2007) war eine weitere Anstrengung in diese Richtung – weniger ein Konzept als eine Linie. Im Jahr 2005 spielte ich ein Konzert mit dem Habanera Quartett im Théâtre de la Ville – Les Abbesses in Paris. Das ursprüngliche Programm bestand nur aus Bachs „Cello Suites“. Während eines Treffens fragte der Theaterdirektor plötzlich: ‚Sind Sie darauf vorbereitet, irgendetwas anderes außer Bach zu spielen?‘ Zunächst stöhnte ich, aber dann klatschte ich in die Hände und sagte: „Ich werde einige pentatonische Nummern komponieren“. Zurück in Japan stellte ich eine Gruppe von Liedern mit dem Titel „Asa“ (Morgen), „Hiru“ (Mittag) und „Ban“ (Abend) fertig, die wir dann im Konzert im Wechsel mit den „Cello Suites“ spielten.
Das Habanera Quartett besteht aus sehr anpassungsfähigen Interpreten und unübertrefflichen Künstlern, weswegen das Konzert nach nur drei Probetagen zum Erfolg wurde, obwohl wir nicht genügend Zeit hatten, um Nuancen nachzugehen, die nicht in der Partitur festgeschrie­ben waren. Das machte mich etwas unzufrieden. Wieder zurück in Japan entschied ich mich dafür, die Sache weiterzuführen und suchte nach neuen, jungen Künstlern – die schließlich zu den Saxophonettes wurden. Daraufhin schrieb ich zahlreiche Stücke; wir probten ein halbes Jahr und übten die feineren Nuancen und Phrasierungen, bis „Pentatonica“ schließlich bereit zur Aufnahme war.

Olaf Maikopf: Sind die Saxophonettes einzigartig in Japan, oder gibt es mehrere vergleichbare Saxophon-Ensemble?

Yasuaki Shimizu: Solche die westliche Klassik spielen, sind nicht so unüblich in Japan. Wir erle­ben darüber hinaus gerade einen beispiellosen Saxophonisten-Boom; in den Musikschulen studieren momentan mehr Studenten das Saxophon als jemals zuvor. Und zwar so viel mehr, dass Selmers Importbeauftragte ein eigenes Betriebsgebäude im Tokioter Innenstadtbezirk Shibuya errichteten. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass es viele Gruppen wie die Saxophonettes gibt. Wir sind ein Saxophon-Ensemble, aber ich denke nicht, dass die Saxophone essentiell für das sind, was wir tun. Insofern unterscheiden wir uns vom Rest.

Olaf Maikopf: In den 1980er und 90er Jahren spielten Sie eine Mischung aus afrikanischer und lateinamerikanischer Musik mit Pop. Interessieren Sie diese Musikrichtungen heute nicht mehr?

Yasuaki Shimizu: Mein Interesse bestand und besteht auch immer noch darin, mich selbst in verschiedene Situa­tionen zu begeben, in Kontakt mit Menschen zu treten, aufzunehmen, was ich von ihnen lernen kann und es zu interpretieren, und dann herauszufinden, welche Soundqualität sich daraus für mich ergibt. Diesen Ansatz habe ich oft wiederholt, und ich ge­nieße es wirklich. Bezüglich „Aduna“ war ich gefesselt von der Stimme des senegalesischen Sängers Wasis Diop und wie sie in mir nachhallte. Sie hat mich derart umgehauen, dass sie beinahe Narben auf meinen Eingeweiden hinterlassen hat. Diese Sessions habe ich wirklich geliebt. Bei „Latin“ passierte das, was lateinamerikanische Musik in mir macht. Eine verdrehte Interpretation von Latin mit musikalischen Einflüssen, wie man sie in Japan erlebt. All meine anderen Arbeiten sind, mehr oder weniger, das Echo meiner Gefühlslage, Moment­aufnahmen meiner Stimmung. Ich lasse mich einfach gehen und genieße das, was passiert.

Olaf Maikopf: Wie sehen ihre Pläne aus, wird es bald ein neues Album der Saxophonettes geben?

Yasuaki Shimizu: Ja, ich werde ein weiteres Saxophonettes-Album mit Original-Kompositionen produzieren. Aber zuerst sind die Aufnahmen der „Goldberg Variations“ dran, die ich für vier Kontrabässe und fünf Saxophone arrangierte und bereits 2010 in Tokyo uraufführte.

Olaf Maikopf: Wann fingen sie damit an Saxophon zu spielen?

Yasuaki Shimizu: Als ich ungefähr zehn Jahre alt war brachte mein Vater ein Saxophon mit nach Hause. Ich war angesichts der Form und der Schönheit des Instru­ments sprachlos. Es gefiel mir, das Instrument anzufassen. Zunächst konzentrierte ich mich natürlich darauf, meine Fertigkeiten auf dem Instrument zu verbessern, aber inzwischen, nach so vielen Jahren, betrachte ich das Saxophon nicht mehr als feingliedriges Musikinstrument, das in sich vollkommen ist. Ich verstehe es einfach als vi­brierenden Klangkörper, der Töne erzeugt. Ich blase Luftstöße in die Röhre und lasse es vi­brieren, sodass der Raum, der mich umgibt, mitspielt und nachhallt. Diese Klänge spiegeln sich und harmonieren untereinander in endloser Weise tief im Herzen des Zuhörers. Auf die­se Art wird der gesamte Raum zum Instrument. Und das ist die wirkliche Freude, die ich beim Spielen der Röhre, die sich ‚Saxophon‘ nennt, empfinde!

Olaf Maikopf: Welches ist ihr bevorzugtes Tenorsaxophon?

Yasuaki Shimizu: Am liebsten spiele ich auf meinem Selmer Serie III Goldlack, mit einem Selmer Soloist E Mundstück. Die Mikrofone, die ich benutze sind im Allgemeinen von Neumann und das Shure SM57. Für die Aufnahmen von „Cello Suites“ im Steinbruch in Ohya, den Kamaishi Mines und einem Palast und einer Villa in Italien bauten wir zehn Neumann Mikrofone auf, aber ich schätze das Shure für improvisierte Aufnahmen.
Für die Konzerte der Saxophonettes wähle ich Säle mit speziellem Sound, versuche also, die Akustik ohne PA herzustellen. Den­noch experimentiere ich gerne und verforme den Klangraum der Säle oder Veranstaltungsorte im Freien, indem ich mehrere ungerichtete Lautsprecher in Richtung der Wände anbringe. Oder manchmal benutze ich Max-Msp, um den Raum zu verzerren.

Olaf Maikopf: Ein Gespräch mit einem Japaner ist heute kaum denkbar, ohne auch über Fukushima und die Auswirkkungen zu reden. Was denken Sie über Japan seit der Atomkatastrophe am 11.03.2011? Hat sich die Gesellschaft verändert?

Yasuaki Shimizu: Japan liegt auf dem Schnittpunkt von vier tektonischen Platten und wurde seit jeher von großen Erdbeben heimgesucht. Persönlich habe ich ein solch großes Erdbeben noch nie erlebt. Angesichts des Kobe Erdbebens in der Mitte der 1990er nahmen die Japaner das Desaster zum Anlass, ihre Kräfte zu sammeln und wieder aufzustehen. Im Fall vom Fukushima-Desaster waren einige Dinge sehr viel intensiver: Die japanische Regierung unternahm lediglich konfuse, halbherzige Anstren­gungen, um die Menschen zu unterstützen. Dennoch wurden die Menschen nicht wütend und die Presse war auch nicht auf Seiten der Leute. Es scheint, als würde das Land von einem unsichtbaren „Geister-System“ regiert, das keine Kritik zulässt. Kurz nach dem Erdbeben organisierte ich zusammen mit dem Tänzer Kazunori Kumagai in Kyoto eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Zusammen mit den Saxophonettes nahm ich an einem Wohltätigkeitsauftritt mit dem Titel „Let’s Go Japan #2“ in Tokio teil. Die Live-Aufnahmen können zeitlich befristet auf iTunes erworben werden; die Einnahmen wandern in einen Hilfsfonds für diejenigen, die von dem Desaster besonders betroffen sind.

www.yasuaki-shimizu.com

Auswahldiscografie (teilweise erhältlich beim Londoner Japan-CD-Importeur): www.farsidemusic.com

-Far East Express (King, 1979)
-IQ-179 (Columbia, 1981)
-L’Automne A Pekin (Columbia, 1983)
-Music for Comercials (Crammed Discs, 1987)
-Aduna (Victor, 1989)
-Shadow of China (Victor, 1990)
-Latin (Wave, 1991)
-From The Cello Suites (Victor, 1996)
-Bach Box (Victor, 1997)
-Seventh Garden (Victor, 2004)
-Pentatonica (Victor, 2007)

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